Was ist "transnational"?
Viele Euro-Betriebsräte ringen mit ihrem Management vehement um die Frage der Zuständigkeit des Europäischen Betriebsrats. Bei welchen Entscheidungen hat die Unternehmensleitung allein den nationalen Arbeitnehmervertretungen Rede und Antwort zu stehen? Wann muss zusätzlich der EBR eingeschaltet werden? Auf den ersten Blick liegt die Antwort auf der Hand: Schließlich begrenzen fast alle Vereinbarungen die Zuständigkeit des EBR´s auf „transnationale“ Angelegenheiten. Auch Richtlinie und Umsetzungsgesetze unterstreichen die Bedeutung einer Maßnahme für mindestens zwei Länder als Voraussetzung für die Beteiligung des EBR. Doch der Teufel steckt im Detail.
Der notorische Konflikt um die Rolle und die Zuständigkeit des EBR bewegt sich zwischen zwei Extrempositionen. Im Zeichen der Globalisierung – so argumentieren manche Arbeitnehmervertreter – gäbe es prinzipiell keine rein nationalen Angelegenheiten mehr. Alle auf den ersten Blick örtlich begrenzten Veränderungen im Betrieb entpuppten sich beim näheren Hinsehen als Auswirkungen eines übergeordneten Wettbewerbs um Marktanteile und Investitionen. Vor allem Managementvertreter widersprechen vielfach vehement dieser These: Entlassungen oder Personalbbau lägen in der Verantwortung der jeweiligen Landesgesellschaften und damit rechtlich ausserhalb der Zuständigkeit des EBR.
Folgendes Beispiel aus unserer Beratungspraxis steht stellvertretend für den häufigen Streit um die Definition des Begriffs "transnational": Der deutsche Gesamt-Betriebsrat eines in Frankreich beheimateten Konzerns stößt mit seinen Anfragen an die deutsche Geschäftsleitung auf wenig Resonanz. Die verlangten Informationen über die Zukunft des Standortes könne man – so das deutsche Management - nicht bereitstellen, weil diese Informationen allein der Europäischen Unternehmensleitung in Paris zugänglich seien. Doch auch auf der EBR-Sitzung kommen die deutschen Vertreter nicht weiter: Freundlich aber bestimmt werden sie vom französischen Patron zurechtgewiesen, dass der Euro-Betriebsrat nur für grenzüberschreitende Themen zuständig sei. Für alle Fragen bezüglich des eigenen Standortes solle man sich daher vertrauensvoll an die heimatliche Geschäftsleitung wenden.
Rein nationale Angelegenheiten außerhalb der Zuständigkeit des EBR
Als allgemeines Prinzip gilt, dass der Europäische Betriebsrat keinen Anspruch auf Unterrichtung und Anhörung bei allen Themen hat, die allein ein einzelnes Land betreffen und über die in diesem Land entschieden wird. Zwar könnten Besonderes Verhandlungsgremium und Zentrale Leitung auch erweiterte Zuständigkeiten vereinbaren. Solche Vereinbarungen wurden bislang jedoch nur in sehr wenigen Fällen abgeschlossen. Sie sind schon deshalb als problematisch zu erachten, weil in diesem Fall die Rechte der nationalen Arbeitnehmervertretungen mit den Unterrichtungs- und Anhörungsrechten des EBR konkurrieren. So erhoffen manch angelsächsische Personal-Manager, dass durch eine Beteiligung des EBR eine zusätzliche Unterrichtung und Anhörung der verschiedenen nationalen Vertretungsorgane ersetzt werden könne. Eine solche Interpretation der EBR-Richtlinie ist jedoch mit dem geltenden Recht unvereinbar und wurde u.a. durch ein einschlägiges Grundsatzurteil gegen das Unternehmen Marks and Spencers zurückgewiesen.
In seiner internen Sitzung steht es dem EBR selbstverständlich frei, sich mit Berichten der Arbeitnehmervertreter zu rein nationalen Entwicklungen zu befassen. So diskutieren viele Gremien in ihren Vorbereitungstreffen über aktuelle Tarifverträge, die Rolle der Gewerkschaften oder tauschen Erfahrungen mit der Einführung neuer Technologien und Arbeitsschutzbestimmungen aus. Das Europäische Management ist jedoch nicht verpflichtet, zu rein nationalen Fragen Rede und Antwort zu stehen und wird dies in vielen Fällen auch gar nicht können. Mit dieser Begrenzung soll nicht allein die Souveränität der nationalen Arbeitnehmer-vertretungen (soweit vorhanden) gewahrt bleiben - sie soll auch die Überfrachtung der EBR-Sitzung mit solchen Themen vermeiden helfen, die nur für EBR-Delegierte einzelner Länder bedeutsam sind. So einleuchtend dieses Prinzip auch sein mag, führt es in der Praxis doch immer wieder zu Dissonanzen: Vor allem EBR Delegierten aus Ländern mit schwacher und überhaupt nicht bestehender Arbeitnehmervertretung bietet der EBR die oft einzige Bühne, um lokale Probleme vorzutragen und Lösungen einzufordern. Entsprechend hoch ist die Erwartungshaltung dieser Delegierten. Durch die EU-Osterweiterung und die damit verbundene Zunahme von EBR-Mitgliedern ohne Anbindung an eine örtliche Arbeitnehmervertretung hat sich dieses Problem noch verschärft. Mancher EBR wird auf eine harte Belastungsprobe gestellt, wenn die uneingelösten Hoffnungen in Enttäuschungen umschlagen oder das Gremium durch die Diskussion lokaler Themen wertvolle Zeit für die Erörterung grenzüberschreitender Fragen verliert. Vor allem neue EBR-Mitglieder sollten daher frühzeitig über die Rolle und die Aufgaben des Euro-Betriebsrats aufgeklärt werden: Konflikte der Arbeitnehmer mit einem örtlichen Vorgesetzten, Pausenregelungen im Betrieb oder die Arbeit mit gefährlichen Stoffen vor Ort gehören im Allgemeinen nicht auf die Tagesordnung des EBR. Dies schließt jedoch keinesfalls aus, dass in lokalen Interessenskonflikten durch den EBR vermittelt oder gar geschlichtet werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass von allen Beteiligten der EBR als eine Gremium erkannt wird, das auch zur Deeskalation lokaler Konflikte beitragen kann. Nach unseren Erfahrungen sind hierfür die informellen Gespräche am Rande der EBR-Sitzungen und das diplomatische Geschick der Vorsitzenden ausserordentlich bedeutsam, auch wenn hierfür eine geringere Transparenz der Kommunikationsprozesse in Kauf genommen werden muss.
Auf die Vereinbarung kommt es an
Was geschieht nun jedoch bei solchen Angelegenheiten, die ganz offensichtlich für das gesamte Unternehmen von Bedeutung sind? Ein genauer Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen ist zur Beantwortung dieser Frage unumgänglich: Nach den Subsidiären Bestimmungen der Richtlinie beschränken sich Unterrichtungs- und Anhörungsrechte eines gesetzlichen EBR auf „Angelegenheiten, die das gemeinschaftsweit operierende Unternehmen oder die gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppe insgesamt oder mindestens zwei der Betriebe oder der zur Unternehmensgruppe gehörenden Unternehmen in verschiedenen Mitgliedsstaaten betreffen.“ (RL 94/45/EG).
Vom deutschen Umsetzungsgesetz wurde diese Formulierung fast wortgleich übernommen: „Der Europäische Betriebsrat ist zuständig in Angelegenheiten (...), die mindestens zwei Betriebe oder zwei Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten betreffen (EBRG § 31 S.1).
Obwohl die Subsidiären Bestimmungen in vielen EBR-Verhandlungen eine Art Leitschnur für die Arbeitnehmervertreter und ihre Gewerkschaften bildeten, wurden die obigen Definitionen in vielen Vereinbarungstexten zum Nachteil der Arbeitnehmer unterlaufen. Dieses soll nachstehend an zwei Beispielen verdeutlicht werden:
„Grenzüberschreitende Problemfragen meint Problemfragen, die eine vom Management zu treffende Entscheidung beinhalten und die aller Wahrscheinlichkeit nach die Beschäftigten in zwei oder mehr Ländern der EU und des EWR wesentlich berühren .“
(EBR-Vereinbarung Otis)
„Themen und Angelegenheiten im Zuständigkeitsbereich des EAR müssen länderübergreifend sein und sich direkt in angemessenem Ausmaß auf Arbeitnehmer in zwei oder mehr Unternehmen in zwei oder mehr verschiedenen Ländern innerhalb der BAT-Gruppe im EWR auswirken.“
(EBR-Vereinbarung British American Tobacco)
Beide Vereinbarungen erwähnen ausdrücklich die Arbeitnehmer in mindestens zwei Ländern als Betroffene der fraglichen Angelegenheit. Nur in solchen Fällen ist nach beiden Vereinbarungen die Unternehmensleitung zur Unterrichtung und Anhörung verpflichtet. In beiden Fällen wäre folglich die Massenentlassung in einem Land als rein nationale Angelegenheit zu bewerten. Der EBR besitzt selbst dann kein Recht, sich mit der Entscheidung zu befassen, wenn die Entlassungen im Land A von der übergeordneten Unternehmensleitung im Land B angeordnet würden. EU-Richtlinie und EBR-Gesetz haben jedoch eine solch restriktive Definition der Zuständigkeit vermieden, indem sie die Betroffenheit nicht an den Begriff der „Arbeitnehmer“, sondern der „Betriebe“ in zwei oder mehr Ländern geknüpft haben. Hierdurch gelten grundsätzlich auch solche Entscheidungen als länderübergreifend, die im Betrieb eines Landes (z.B. dem Hauptsitz des Unternehmens) getroffen wurden und sich auf einen zweiten Betrieb des selben Unternehmens in einem anderen Land auswirken. Die Kommentatoren des Europäischen Betriebsrätegesetzes sind sich weitgehend darüber einig, dass es sich grundsätzlich um eine transnationale Angelegenheit handelt, wenn z.B. eine Standortschließung außerhalb des von der Maßnahme betroffenen Landes beschlossen wird:
"Beispiel: Die zl mit Sitz in Deutschland plant, einen Betrieb in Belgien zu schliessen. Die Angelegenheit betrifft sowohl das Unternehmen in Deutschland (die entscheidende zl) als auch einen Betrieb in einem anderen Mitgliedstaat. Der EBR ist zu unterrichten.... Bei Entscheidungen dieser Art handelt es sich stets um eine grenzübergreifende Angelegenheit. Deshalb kann es jedenfalls dann, wenn die zL ihren Sitz im Inland hat, nicht darauf ankommen, dass die fragliche Unternehmensentscheidung Auswirkungen in mindestens zwei Mitgliedstaaten hat."
Thomas Blanke: EBRG- Kommentar, Baden-Baden 1999, S. 240.
Ähnlich äußern sich weitere Autoren in einschlägigen juristischen Fachpublikationen (z.B. Kittner, Müller, Sandmann und Gaul).
Die oben beschriebene Auslegung der Richtlinie wird nicht zuletzt durch den Erwägungsgrund 12 der Richtlinie gestützt: „Es sind geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die Arbeitnehmer gemeinschaftsweit operierender Unternehmen oder Unternehmensgruppen angemessen informiert und konsultiert werden, wenn Entscheidungen, die sich auf sie auswirken, außerhalb des Mitgliedstaats getroffen werden, in dem sie beschäftigt sind.“ Zu beachten ist allerdings, dass sich der Ort dieser Entscheidung innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie befinden muss. Entscheidet etwa ein Unternehmen in der Schweiz die Schließung seines deutschen Tochter-Unternehmens, hätte diese Maßnahme im Sinne der Richtlinie keinen grenzüberschreitenden Charakter, da sich der Ort der Entscheidung außerhalb der EU befindet.
Die einschlägigen Gerichtsurteile im Zuge der Schließung des Renault-Werkes in Vilvoorde bei Brüssel haben die obige Auslegung der Richtlinie bekräftigt. Der französische Autobauer war 1997 und 1998 höchstrichterlich dazu verurteilt worden, den Europäischen Betriebsrat vor der geplanten Schließung anzuhören, obwohl die Arbeitnehmer in lediglich einem Land (Belgien) von der Maßnahme betroffen waren. Da die Entscheidung jedoch in einem anderen Land (Frankreich) getroffen worden war, betrachteten die Richter die Bedingungen für eine grenzüberschreitende Unterrichtungs- und Konsultationspflicht der Unternehmensleitung als erfüllt.
Um den Handlungsspielraum des EBR nicht unnötig zu beschneiden, sollten Arbeitnehmervertreter bei der Gestaltung neuer EBR-Vereinbarungen die nötige Sorfalt walten lassen. Dazu gehört, den der EBR-Richtlinie innewohnenden Interpretationsspielraum zumindest zu bewahren. Besser noch wird ein Besonderes Verhandlungsgremium eine präzise Definition anstreben, wie sie z.B. in folgender Formulierung zum Ausdruck kommt:
„Transnationale Angelegenheit: Angelegenheit mit Bezug auf die Beschäftigten in mindestens zwei Ländern im Geltungsbereich dieser Vereinbarung oder am Sitz der zentralen Leitung oder einer einem anderen Standort geplante oder entschiedene Maßnahme mit (voraussichtlichen) Auswirkungen auf die Beschäftigten in mindestens einem weiteren Land.
Praxiserfahrungen
Viele Europäische Betriebsräte klagen seit ihrer Konstituierung über massive Beschneidungen ihrer Unterrichtungs- und Anhörungsrechte. Die Unterrichtung erfolgt häufig gar nicht, zu spät oder unzureichend ohne Vorlage der dazugehörigen Dokumente. Wenn Unterlagen überhaupt ausgehändigt werden, sind sie zumeist für den EBR weichgespült. Es fehlen das dazugehörige präzise Zahlenmaterial und alternative Entscheidungsoptionen wie sie üblicherweise in einem „Business Case“ enthalten sind. Konsultation im Sinne einer ergebnisoffenen Beratung findet nur selten statt. Zudem gehört es zu einer verbreiteten Strategie des Managements, die Zuständigkeit des Europäischen Betriebsrats zu bestreiten, indem die Umsetzung eines strategischen Unternehmensziels zeitlich gestreckt wird. In solchen Fällen wird z.B. eine zwei Länder betreffende Produktionsverlagerung nicht als gesamtplanerische Maßnahme erkennbar, wenn die Bekanntgabe der Schließung eines Standortes im Land nicht mit der gleichzeitigen Information zur Errichtung eines neuen Werkes im Land B einhergeht. Ein großer deutscher Reifenkonzern schloss innerhalb von fünf Jahren Reifenwerke in fünf verschiedenen Ländern. Von den Arbeitnehmervertretern wurde dabei mit der Nachweis verlangt, dass die Schließungen als Teil eines europäischen Gesamtkonzepts zu betrachten seien. Eine zeitversetzt implementierte Massenentlassung in mehren Ländern ist geeignet, den grenzüberschreitenden Charakter der Maßnahme zu kaschieren. Der Nachweis des grenzüberschreitenden Charakter ist z.B. dadurch zu führen, dass die Betriebsschließung im Land A und die Ausweitung der Überstunden im Land B in Verbindung zueinander stehen. Solche Nachweise gelingen jedoch nur unter günstigen Umständen. So gab z.B. 1997 das japanische Unternehmen Panasonic die Schließung der Bildröhrenproduktion in Frankreich bekannt. Als das Management die Aufnahme dieses Tagesordnungspunktes aufgrund des angeblich fehlenden grenzüberschreitenden Charakters der Maßnahme verweigerte, präsentierten die deutschen EBR-Vertreter ein Schreiben der Berliner Geschäftsleitung an die lokalen Beschäftigten: Aufgrund der Schließung in Frankreich - so erhielten es die Panasonic-Mitarbeiter schwarz auf weiss - wurden sie aufgefordert, zukünftig Mehrarbeit zu leisten.
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